scout fragt nach

"Medienkompetenz kann man nicht ab einem bestimmten Alter voraussetzen"

Professor Herbert Scheithauer lehrt an der FU Berlin. Hier der Entwicklungspsychologe und weltweit geschätzte Forscher zu "Cyberbullying" im Gespräch mit scout über Medienkompetenz und Medienerziehung.

Foto: ddp images (Maximilian Mann)

Medienkompetenz wird gerne als „Kinder- und Jugendlichen-Thema“ dargestellt. Stimmt das denn so?

Medienkompetenz ist nichts, was man ab einem gewissen Alter automatisch voraussetzen kann. Bei Kindern schon gar nicht, bei Jugendlichen nicht und sogar bei vielen Erwachsenen nicht. Eine Förderung muss hier also viel systematischer in allen Altersklassen erfolgen.

Vor allem Erwachsene muss man viel stärker verpflichten! Viele Eltern nehmen sich bei diesem Thema heraus und sagen: Meine Kinder kennen sich viel besser aus mit Medien als ich, das sollen die mal machen. Nein, die Erwachsenen haben die Aufgabe sich um die Medien und die Mediennutzung ihrer Kinder zu kümmern! Und auch um die eigene, um fit zu bleiben und um mitzukommen.

Eltern sind ja auch lange die Hauptbezugspersonen ...

… und sie haben eine große Bedeutung. Sie sind quasi ein "Modell", das heißt sie selbst leben vor, wie und wie häufig man Medien nutzt, was man mit Medien macht, wie man darüber denkt. In der Familie wird vorgelebt, wie mit Medien umgegangen wird: Gucken wir gemeinsam, gucken wir alleine, gucken wir, wenn es uns schlecht geht, gucken wir, wenn wir unsere Ruhe haben wollen. Eltern haben somit über Regeln einen direkten und über ihr Mediennutzungsverhalten auch einen indirekten Einfluss auf die Mediennutzung und Medienkompetenz ihrer Kinder.

Was sollten Eltern noch bedenken?

Medien sind kein Parkplatz fürs Kind, damit man mal seine Ruhe hat und andere Dinge erledigen kann! Medien sind etwas, das man unbedingt mit Kindern gemeinsam machen muss und wo man nach und nach den Kindern dann mehr Möglichkeiten gibt, auch selber zu entscheiden und selber bestimmte Medien, die Netzwerkmedien im Jugendalter, zu nutzen für die eigenen Zwecke.

Viele Kinder brauchen es, dass sie einen Erwachsenen neben sich haben, der erklärt, an den sie sich anlehnen können, der das Kind auch beobachtet und sieht, das Kind ist total aufgeregt, jetzt muss ich mal erklären, einen Film anhalten oder sogar abschalten. Wenn sich das Kind im Zimmer einschließt mit einem eigenen Fernseher oder Smartphone, dann finde ich das äußerst problematisch. Hier haben Eltern eine ganz wichtige Funktion, und den meisten Eltern ist das nicht klar. In ihrer – es sich zu einfach machenden – Denke ist es so: Das ist ein Zeichentrickfilm, der muss für Kinder doch in Ordnung sein. Aber um ein krasses Beispiel zu geben: Vergewaltigungs-Anime sehen vielleicht zu Beginn auch aus wie ein harmloser Zeichentrickfilm. Eltern müssen also immer beobachten, was da inhaltlich passiert bei dem, was sich ihr Kind anschaut.

Nun sind Kinder und Jugendliche den halben Tag in der Schule - wo sehen Sie hier Möglichkeiten, Punkte für die Medienkompetenz zu sammeln?

Ich finde, dass wir in der Schule viel stärker Themen wie Medien und ihre Wirkung“ oder „Soziale Netzwerke“ behandeln müssen. Und ich meine auch, dass der Unterricht eine gute Möglichkeit ist, Kinder und Jugendliche untereinander strukturiert zu diesem Thema arbeiten zu lassen. Ich kann im Übrigen nicht verstehen, dass an einigen Schulen die Schüler*innen ihre Handys abgeben müssen, mit dem Ziel, die Nutzung beziehungsweise den Medienkonsum zu regulieren. Die Schulverantwortlichen sollten es doch eher so sehen: Ab einem gewissen Alter ist ein Handy nun mal etwas, das alle haben. Und auch etwas, das im und für den Unterricht gezielt genutzt werden kann.

Wie sollte Medienerziehung denn verankert werden?

Wir brauchen eine gute Medienpädagogik, das heißt: nicht eine Unterrichtsstunde in der Woche in der fünften Klasse, und das war es dann. Wir leben in einer Welt, in der Medien rund um die Uhr präsent sind, sodass wir gar nicht darum herumkommen, uns damit zu beschäftigen, welche Wirkung sie haben und wie wir sie sinnvoll nutzen. Und gerade im Kontext Schule, wo wir alle Kinder und Jugendlichen erreichen, sollten wir damit anfangen. Deshalb sollte eine adäquate Mediennutzung, Medienkompetenz und so weiter auch als Querschnittsthema in unterschiedlichen Fachunterrichten und Jahrgängen eine prominente Rolle einnehmen. Zudem können Fragen der Medienkompetenz, zum Beispiel eine kritische Nutzung von Medien und Medieninhalten, auch im Rahmen eines eigenen Unterrichtsfachs bearbeitet werden.

Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Schule überhaupt in der Lage ist, das zu tun. Wir fordern immer Dinge, aber sehen nicht, dass es über 30.000 Schulen in Deutschland gibt, die jeden Tag arbeiten, ohne dass die Lehrkräfte überhaupt entsprechend medienpädagogisch ausgebildet und fortgebildet sind.
In allen curricularen Strukturen, die ich kenne, spielen Medienpädagogik und Medienerziehung eine eher untergeordnete Rolle. Deshalb glaube ich, dass wir unbedingt in den Lehrplänen, in der grundständigen Lehrkräftebildung, aber auch in der Fortbildung, nacharbeiten müssen. Man kann doch nicht von einer Lehrkraft erwarten, dass sie all das automatisch im Unterricht umsetzt, wenn sie es nie gelernt hat! Man muss die Lehrkräfte fit machen, die Schulen versorgen mit Möglichkeiten. Und das nicht nur sporadisch bei Interesse, also mit der Gießkanne, nach dem Motto "hier und da ein Projektchen".

Und auch nicht nur dann, wenn mal etwas schief geht! So kenne ich das zum Beispiel aus der Cybermobbing-Forschung und -Prävention: Wenn so ein Fall passiert, dann besteht urplötzlich größtes Interesse und es heißt: Wir kümmern uns jetzt darum. Aber das reicht eben nicht: Medienpädagogik ist ein so wichtiges und allumfassendes Thema, dass wir es systematisch flächendeckend und verbindlich in die bestehenden Schulstrukturen bringen müssen.

Wie sollten Schule und Lehrkräfte auf Jugendliche zugehen?

Ganz wichtig: Eine belehrende Grundorientierung in der Medienpädagogik kann man für das Jugendalter vergessen. Ein erhobener Zeigefinger – „Da ist Cyber-Grooming, und ihr müsst dies und das dagegen tun“ – funktioniert hier nicht mehr. Ab einem gewissen Alter ist das für die Jugendlichen überhaupt nicht relevant und führt nur zu Unverständnis und Ablehnung: Was wollen die Erwachsenen denn? Man muss die Jugendlichen ernst nehmen und kann nicht sagen: Ich als Erwachsener sage euch jetzt mal, wie ihr dieses Medium zu nutzen habt! Man muss einen anderen Weg gehen: frühzeitig mit den Jugendlichen ins Gespräch kommen, sich interessieren. Immer fragen und verstehen: Welche Motivation habt ihr, euch mit bestimmten Inhalten zu beschäftigen? Warum findet ihr das wichtig, was passiert da? Man braucht also einen Ansatz, der berücksichtigt, dass die Jugendlichen ihre eigene Lebenswelt haben, ihre eigenen Ansichten und Motivationen, und sie in ihren Lebenskompetenzen stärken.

Belehren ist also völlig out?

Das führt vielleicht zu weit … Ich will nur sagen, viele Maßnahmen hören da leider schon auf. In Deutschland neigen wir zu Projektwochen und zum Verteilen von Flyern – und damit meint man dann ein Thema ausreichend behandelt zu haben. Bis zu einem gewissen Grad sind diese Dinge ja auch richtig und wichtig. Aber wenn ich nachhaltig langfristig Effekte erzielen, eine Verhaltensgewohnheit ändern oder wichtige Kompetenzen fördern will, muss ich eine Schippe drauflegen.