Scripted Reality

Lügen haben gute Quoten

Scripted Reality nennen sich frei erfundene Familiendramen mit grotesken Handlungssträngen. Die Sendungen laufen nachmittags im deutschen Privatfernsehen. Der Haken daran: Kindern und Jugendlichen halten die Shows oft für echte Dokumentationen.


Ein junger Mann zieht an der Hauswand, die Wand verhält sich wie Papier
Foto: Jan Kriwol

Lukas liebt Rita. Rita ist die beste Freundin von Lukas‘ Mutter Paula und 40 Jahre älter als er. Paula erwischt Rita und Lukas in einer verfänglichen Situation. Ein Kommentator spricht aus dem Off: „Paula macht der Blondine schwere Vorwürfe.“ Dann spricht die Mutter in Nahaufnahme ins Mikrofon: „Wie kann Rita es wagen, meinen Sohn zu verführen?“ Die Freundin antwortet, auch in einer Einzelaufnahme: „Diese verklemmte Pute gönnt mir mein Glück nicht!“ Es ist die Szene aus einer Fernsehsendung: „Familien im Brennpunkt“ heißt sie, läuft nachmittags auf RTL. Sie ist gefilmt und inszeniert wie eine ganz normale Dokumentation, bietet einordnende Kommentare aus dem Off, kleine Interviews mit den Beteiligten, dazu wacklige Bilder von der Handkamera. Der Stil sagt dem Betrachter: Alles ist echt! Die Geschichten sind aber völlig frei von Drehbuchschreibern erfunden. „Familien im Brennpunkt“ wird von Jugendlichen wie auch Kindern gesehen. Warum sie das tun, hat die Münchner Medienpädagogin Maya Götz in Zusammenarbeit mit der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen untersucht. In der Studie, an der 861 Probanden im Alter von sechs bis 18 Jahren teilnahmen, werden die jungen Fernsehzuschauer mit Sätzen zitiert wie: „Das war sehr lustig, weil es komplett dämlich war.“ Oder: „In ,Familien im Brennpunkt‘ geht es darum, wie Familien sich in Deutschland verhalten.“

Und wie verhält sich Deutschland? Eine arbeitslose Mutter schlägt ihren Mann und lässt die Kinder verwahrlosen, der cholerische Sohn macht die Mutter zum Wrack, ein mega-attraktiver Aufreißer stiehlt seinem Bruder die große Liebe. Und immer fliegen die Fetzen, wenn deutsche Familien im Fokus sind.

Bei Paula, Rita und Lukas werden innerhalb von 46 Minuten und 52 Sekunden Sendedauer noch viele Themen abgehakt: Untreue, ein uneheliches Kind, Steuerhinterziehung und eine Hochzeit in Las Vegas.

Ausgefeiltes Geschäftsmodell

Ganz schön widersprüchlich: Medienwissenschaftler reden von Reality-TV, wenn die Wirklichkeit von den Sendern teilweise oder auch ganz inszeniert wird. Immerhin haben sich einige Sender dazu durchgerungen, völlig frei erdichtete Sendungen – im Medienjargon Scripted Reality genannt – in Vor- oder Abspann zu kennzeichnen. Es sind Formate wie „Die Schulermittler“, „Verdachtsfälle“, „mieten – kaufen – wohnen“ oder eben „Familien im Brennpunkt“. Der Potsdamer Fernsehforscher Professor Hans-Jürgen Weiß vermutet, dass in vielen weiteren Fällen „de facto gescriptete Dokus nicht als solche ausgewiesen werden“.

Warum auch nicht, ein ausgefeilteres Geschäftsmodell hat es für Fernsehmacher bislang kaum gegeben: Je mehr die Regie Einfluss nimmt, um so schneller und billiger kann produziert, um so krassere Geschichten können erzählt werden. Denn nach 20 Jahren Privatfernsehen ist in Daily Talks, Gerichtsshows und Doku-Soaps schon fast alles gesendet worden, was das Bruttoemotionalprodukt steigert. Die Dosis muss erhöht werden, damit der Zuschauer noch den Kick bekommt.

So startete „Richterin Barbara Salesch“ zunächst mit echten Fällen. Als die zu langweilig wurden, wurde munter erfunden – und die Quoten verdreifachten sich. Auch „Mitten im Leben“ lief zunächst als „richtige“ Doku-Soap. Als der Sender mangels Erfolg auf Scripted Reality umstieg, verdoppelten sich rasch die Quoten. Spricht vielleicht deshalb Friedrich Küppersbusch, TV-Journalist und -Produzent, auch von „Quotenbeschaffungskriminalität“?

Das Verwirrspiel um Fiktion und Wirklichkeit zahlt sich aus. RTL ist tagsüber mit seinen gescripteten Formaten unangefochtener Marktführer bei der für Werbekunden so wichtigen Gruppe der 14- bis 49-Jährigen und sichert dem Sender, der von 18 bis 20 Uhr hinter dem ZDF liegt und von 20 bis 23 Uhr sogar hinter ARD und ZDF, im gesamten Tagesschnitt die höchsten Quoten.

Man mag darüber streiten, ob es guter Geschmack ist. Wir sind der Meinung, es ist gutes Fernsehen.

Christian Körner

Nun wird kontrovers und mit harten Bandagen über Reality-TV diskutiert. Kritiker reden von „Lügenfernsehen“, nennen „Familien im Brennpunkt“ und ähnliche Formate bei anderen Sendern „Sozialpornografie“. Kurz: Die Privaten würden mit unlauteren Methoden Geld scheffeln – und das ohne jeden Skrupel. Die Produzenten hingegen geben sich gekränkt: Man leiste doch Aufklärung und Lebenshilfe, weil am Ende jeder Sendung alle noch so großen Probleme gelöst würden. „Man mag darüber streiten, ob es guter Geschmack ist. Wir sind der Meinung, es ist gutes Fernsehen“, sagt RTL-Sprecher Christian Körner. „Familien im Brennpunkt“-Produzent Stefan Oelze pflichtet ihm bei: „Die Kritiker sollten öfter mal S-Bahn fahren um zu sehen, was Normalität in Deutschland ist.“

Jugendliche ohne Durchblick

Nun kann ja jeder TV-Produzent und jeder Medienwissenschaftler für sich entscheiden, was hier und heute normal ist. Sie sind schließlich erwachsen und frei in ihrer Meinungsbildung. Doch zu den bis zu drei Millionen Zuschauern pro nachmittäglicher Sendung zu Zeiten quotentechnischer Pegelhöchststände gehört eine große Zahl von Kindern und Jugendlichen – gut ein Fünftel der zu diesem Zeitpunkt fernsehenden Zehn- bis 13-Jährigen schaltet „Familien im Brennpunkt“ ein. Und die werden oft ganz allein gelassen in ihrer Beurteilung, was da nun echt ist oder wahr, wenn gestritten, gepöbelt oder gar geschlagen wird.

Maya Götz hat in ihrer Studie ausgemacht, dass mehr als ein Drittel der Gesamtstichprobe schon einmal „Familien im Brennpunkt“ gesehen hat. Nur ein Fünftel dieser „Brennpunkt“-Zuschauer erkennt sicher, dass die Geschichten frei erfunden sind. Mehr Jungen als Mädchen sagen das, je älter, desto öfter, Gymnasiasten eher als Haupt- oder Realschüler. „Doch gerade für Kinderund Pre-Teens (Zehn- bis 13-Jährige) handelt es sich um reale Ereignisse, die nachgestellt, wenn nicht sogar dokumentiert wurden“, sagt Maya Götz. Und das klingt dann in den Worten eines elfjährigen Mädchens so: „Es geht um Familien, die ihre Probleme dem Fernsehen melden.“

Wenn man einmal erklärt hat, dass die Sendungen erfunden sind, ist die Tür schon geöffnet, dann sagen die Schüler plötzlich: ,Stimmt, die haben ja immer dieselben Klamotten an'.

Maya Götz

Was macht die Faszination der Sendung für Kinder und Jugendliche aus? Schließlich gibt es zur Nachmittagszeit genügend kindgerechte Sendungen, die aber viel geringere Quoten einfahren. „Wenn sie nicht etwas für sich herausziehen könnten, würden sie es auch nicht schauen“, sagt Maya Götz: „Sie sagen sich: ,Hier wird mir was erklärt‘.“ Gerade Pre-Teens surfen in diesem Lebensabschnitt auf einer emotionalen Welle, sind bereit, sich mit großen Themen wie Familie und Verantwortung auseinanderzusetzen.

Jedes Problem eine Lösung

Und dann flimmert da nachmittags ein Format, das Familienthemen häppchenweise verpackt, in kurzen, spektakulären Handlungssträngen und Klischees erzählt und dazu meist ein Happy End bietet.

Die jungen Zuschauer sehen nicht nur fern, sie fühlen auch fern. Ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen verhält sich tatsächlich empathisch gegenüber den Figuren und kann ihre Probleme nachfühlen. Ein weiterer Teil sieht sich entlastet, weil andere Familien auch Streit haben, und zwar viel schlimmeren als in ihrer eigenen Familie. Die für Erwachsene grotesk anmutenden romantisierenden Schlichtungen zum Ende der Sendungen werden von den Fernfühlern als wohltuend angenommen: „Jetzt weiß ich, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt.“ Die jungen Zuschauer geben überwiegend an, die Sendung zu sehen, „weil dort gezeigt wird, was bei der Lösung hilft und was nicht“. Tendenziell die älteren und im Schnitt besser gebildeten Schüler schauen die Sendung, um ihr Bild von sich selbst durch Abgrenzung von „den Dummen da im Fernsehen“ zu erhöhen.

So positiv die Erlebnisse der jungen Zuschauer insgesamt auch klingen mögen, sie haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Sie sind „weder hilfreich noch nachhaltig“, moniert Maya Götz und ruft „dringend nach Förderung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen und der Sensibilisierung von Pädagogen und Eltern“.

Das Verwirrspiel um Wahrheit oder Erfindung ist jedenfalls gewollt. Auf die Frage, ob solche Sendungen entsprechend gekennzeichnet sein sollten, gab TV-Produzent Thilo von Arnim jüngst ganz unverblümt zu: „Nein, (stärker) kennzeichnen sollte man nicht. Noch wirkt Scripted Reality dokumentarisch.“ Und fügte hinzu: „Aber ich denke, dass es sich unter den Zuschauern schon bald herumsprechen wird, dass hier Drehbuchautoren am Werk sind.“ Die MA HSH plädiert für eine Kennzeichnung, damit Kinder und Jugendliche wissen, woran sie sind.

Um diesen Effekt zu beschleunigen, sollten Eltern und Pädagogen einfach dafür sorgen, dass dieses Wort die Runde macht. Bereits in einer Unterrichtsstunde – zum Beispiel einer Ausfallstunde, die sonst nur vertrödelt würde – könne man viel Aufklärung leisten, sagt Maya Götz: „Wenn man einmal erklärt hat, dass die Sendungen erfunden sind, ist die Tür schon geöffnet.“ Dann sagen die Schüler plötzlich: „Stimmt, die haben ja immer dieselben Klamotten an, obwohl das ganze sechs Wochen dauert.“ Und stellen fest: „Klar, bei uns gibt’s keinen Schulermittler, wieso sollten die einen haben?“ Die Diskussion über Scripted Reality passe in viele Schulfächer: zum Beispiel Gesellschaftskunde, Religion oder Deutsch. „Letztlich ist es aber ein klassischer Stoff für die Deutschstunde. Es handelt sich bei den Drehbüchern schließlich um eine Textform, genau wie bei Nacherzählung oder Inhaltsangabe.“

Und so bleibt nur noch nachzuerzählen, wie es Lukas und Rita erging: Die Hochzeit in Las Vegas wurde annulliert, und Paula freut sich: „Wir sind wieder gute Freundinnen, bessere als wie zuvor!“


Dieser Artikel erschien in der scout-Ausgabe 2.2012 und wurde für den Relaunch der Webseite im April 2014 aktualisiert. Seit der Erstveröffentlichung des Artikels hat sich die Anzahl an Scripted-Reality-Sendungen noch weiter erhöht. Die Landesmedienanstalten kämpfen deshalb für die Durchsetzung einer generellen Kennzeichnungspflicht von Scripted-Reality-Sendungen.

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