Ist TikTok vieleicht so gut wie Arte?

Ab wann können Kinder Demokratie lernen? Was muss Schule dafür leisten? Wie sieht es mit „digitaler Teilhabe“ und Chancengleichheit aus? scout spricht mit Pädagogik-Professor Heinz Reinders.


Wann fängt Demokratie an

Demokratie zu leben in ihrer ursprünglichen Form, die sich auch Kinder Stück für Stück aneignen, heißt, untereinander Interessen auszuhandeln, um einen für mehrere Seiten tragbaren Kompromiss zu finden. Kommunikation ist daher das wichtigste Mittel, das Kinder und Jugendliche nutzen, um in die Gesellschaft  hineinzuwachsen. Früher hieß Kommunikation zumeist: einfach losreden!

Dieser sprachliche Austausch ist nun – nicht völlig, aber doch zu einem großen Teil – in die sozialen Medien hinübergewandert. Deshalb müssen die Heranwachsenden diese neuen Kanäle beherrschen. Und lernen, die für dieDemokratie so wichtige Interessensaushandlung auch dort zu beherrschen.  

Medienkompetenz ist also wichtig für die Entwicklung von "Demokratiefähigkeit"?

Ja, genau.

Ab welchem Alter können Kinder erste "Demokratie-Erfahrungen" machen?

Ab dem Zeitpunkt, wo Kinder nicht nur selbst Bedürfnisse haben und äußern, sondern auch die Bedürfnisse anderer verstehen. Diese können ja ganz anders gelagert sein. Dann wird verhandelt. Das fängt im ersten echten sozialen Netzwerk an, nämlich unter Freundinnen und Freunden. Das sind Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit beruhen. Weil man sich Freunde aussuchen kann. Oder auch sagen: Du bist nicht mehr mein Freund! Plötzlich müssen die Kinder unterschiedliche Interessen aushandeln und einen Konsens in der Gruppe finden. Ab diesem Moment können wir als Gesellschaft beginnen, die Entwicklung der Demokratiefähigkeit – oder Demokratiekompetenz – zu fördern.  

Wer gut spricht, setzt sich in digitalen Formaten durch.

Professor Heinz Reinders

Das heißt konkret?

Vier- bis Fünfjährige kommen damit prima klar. Es beginnt also kurz vor dem Einstieg in die Schullaufbahn.

Und wie soll die Demokratieförderung aussehen? Wer soll es machen?

Demokratie können wir nicht lehren – weil man sie erleben muss. Es gibt für alle Altersgruppen passende pädagogische Konzepte. Kinderforen oder Kinderparlamente in Kooperation mit kommunalen Gremien zum Beispiel. Solche Formate sind natürlich – und leider – nicht überall zu finden. In der Fläche gibt es aber sehr viel mehr Orte, um Demokratie zu üben und zu praktizieren: in Vereinen, bei Technischen Hilfswerken oder der Feuerwehr. Auch im Sport oder in religiösen Freizeitgruppen. Das sind wichtige Orte für die Entwicklung demokratischer Fähigkeiten, hier werden Impulse gesetzt. Kinder und Jugendliche arbeiten auch gerne gemeinnützig. Aber nur solange, wie sie sich ernst genommen fühlen. Unsere eigenen Studien haben gezeigt, dass gemeinnützige Tätigkeit im Jugendalter zu einer höheren Wahrscheinlichkeit führt, auch als Erwachsener im weitesten Sinne politisch aktiv zu werden. 

Zur Person:

Erziehungswissenschaftler Professor Heinz Reinders (Würzburg) forscht zu Sozialisationsprozessen in Kindheit und Jugend und war Mitglied der Sachverständigenkommission der Bundesregierung zum Dritten Engagementbericht mit dem Thema "Junges Engagement im digitalen Zeitalter".

Nun sind nicht alle Kinder in Vereinen...

Und deshalb müssen wir da die Schulen in die Pflicht nehmen. Und da ist es leider so: Ob Schüler*innen gute Impulse bekommen in Sachen Demokratie oder nicht, ist ein reines Glücksspiel. Das fängt schon bei der Ausbildung von Lehrer*innen an. Die Unis tragen da eine gewisse Mitverantwortung, dass Demokratieförderung nicht verlässlich in die Breite getragen wird. Lehrer*innen sollten selbst lernen, Schüler*innen zu trauen und Mitbestimmung zuzulassen. Dann müssen sie aber auch ein Stück Macht abgeben.  

Sie sagten ja, dass Miteinanderreden - als "Urform" demokratischen Aushandelns - in die digitalen Medien abgewandert ist? Ist das gut oder schlecht?

Da sage ich zunächst einmal, ganz trivial: Die Medien, die Netzwerke, sie sind da, und wir können sie nicht wegdenken. Auch wenn wir es gerne wollten. Das heißt dann: Wir müssen pädagogisch damit arbeiten. Da ist die erste Erkenntnis: Es geht nicht darum, wie wir uns die Nutzung vorstellen, sondern darum, wie Kinder damit umgehen, wie sie die Medien nutzen. Wir Erwachsene glauben, dass nur die ewig lange Arte-Doku wirklich Vertiefung bringt. 
Jugendliche schauen sich stattdessen vielleicht 17 TikTokClips zum Thema an – und lernen dabei Ähnliches. Es müssen nicht unsere Vorstellungen von Nutzung funktionieren, sondern ihre. Wenn wir es nicht schaffen, uns auf die Perspektive der Jugendlichen einzustellen, läuft meiner Meinung nach jede medienpädagogische Begleitung ins Leere.

Wenn man es positiv sieht, ermöglichen digitale Medien ja auch, für die eigene Meinung zu stehen oder Einfluss auf eine Debatte zu nehmen.

Ja, es gibt eine hohe Kompetenz, die sich in Liken und Reposten äußert. Es ist auch eine Kompetenz, im Digitalen echte Beziehungen zu pflegen, wie junge Leute das können. Übrigens erkennen Jugendliche, die sich selbst eine höhere Medienkompetenz zusprechen, sehr viel besser Fake News. Sie fühlen sich auch politisch viel kompetenter.

Politik muss verstehen, dass Demokratie ein Lebenskonzept ist und kein moralischer Gedanke. Dann richtet sich die Kinder- und Jugendförderung auch an den Lebenskonzepten Heranwachsender aus - und nicht an moralischer Besserwisserei. Medienpolitik wiederum muss verstehen, dass Mediennutzung alltäglich ist und unterschiedliche subjektive Funktionen erfüllt. Sprache auf dem Pausenhof ist zum Beispiel genauso ein Medium wie ein ‚Reel‘ auf Instagram oder TikTok.

Professor Heinz Reinders

Das klingt jetzt doch sehr positiv.

Es hat aber auch einen großen Haken: Genau hier verschärft sich der „Bildungseffekt“: Kinder aus bildungsfernen Milieus werden im Digitalen noch sehr 
viel stärker abgehängt, als es ohnehin der Fall ist. Wer Deutsch als Muttersprache hat und aus einem bildungsnahen Milieu stammt, setzt sich mit seinen Bedürfnissen in den digitalen Formaten verstärkt durch. Das geht nämlich über die Sprache, zum Beispiel bei den „Hashtag-Bewegungen“ oder beim Crowdfunding. Ebenfalls in Posts und Kommentaren. Da profitieren diejenigen, die sich gut ausdrücken können. Das heißt, diese Gruppen we rden gehört, andere nicht. Ich sage es mal etwas verkürzt: Die Bedürfnisse von Hauptschüler*innen werden so nicht abgebildet, ihre Themen nicht angesprochen und nicht verhandelt. Diese Jugendlichen können sich weniger gut einbringen. Und was ist zu erwarten, wenn die sich später in die Demokratie einbringen sollen… Da mache ich mir schon Gedanken…

Was können wir tun?

Die Schule, in der wir alle Kinder zusammenbringen, hat den gesellschaft lichen Auft rag, demokratische Persönlichkeiten heranzubilden, die „mündigen Bürger*innen“. Da hilft mir höhere Mathematik auch nicht weiter. Ich würde mir also weniger fachlichen Unterrichwünschen, stattdessen mehr Demokratieförderung. Wir müssen das Thema Mediennutzung der Kinder und Jugendlichen in den Unterricht aller bringen. Das muss schon an den Unis im Rahmen der Ausbildung der Lehrkräfte beginnen. Ziel muss sein, die Kinder und Jugendlichen zu befähigen, sich in allen Kanälen auszudrücken. Und auch auszuhalten, dass mal Unsinn auf Instagram gepostet wird.